Es dürfte keine unfreiwillige Obdachlosigkeit geben – Gespräch mit Menschenrechtsverein Jumen e. V.
Wohnen für alle. Leona Vehring und Volker Gerloff vom Menschenrechtsverein Jumen e. V. wollen per strategischer Prozessführung Grundsatzentscheidungen zum Menschenrecht auf Wohnen einfordern.
Das Menschenrecht auf Wohnen ist zwar in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im UN-Sozialpakt sowie in mehreren Landesverfassungen enthalten, aber nicht alle Juristinnen und Juristen leiten daraus einen einklagbaren Anspruch ab. Was meinen Sie?
Vehring: Nach unserer juristischen Einschätzung gibt es ganz klar einen einklagbaren Anspruch auf eine angemessene Unterkunft. Im Völkerrecht ist das Recht auf angemessenes Wohnen an zahlreichen Stellen normiert, und das Recht auf eine angemessene Unterkunft ergibt sich auch aus dem vom Bundesverfassungsgericht festgeschriebenen Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
Was jedoch »angemessen« bedeutet, ist dann schon wieder Auslegungssache. Nationales und internationales Recht geben hier nur einen sehr groben Rahmen vor. In Deutschland existieren keine gesetzlich geregelten, bundesweit verbindlichen Mindeststandards für die Unterbringung von wohnungs- und obdachlosen Personen. Wenn man sich jedoch die Rechtsprechung und das internationale Recht anschaut, kann man in einigen Punkten zumindest grobe Richtwerte erkennen.
Zum Beispiel sollte die Wohnfläche mindestens neun Quadratmeter betragen, die Unterkunft sollte mit Heizung, Stromanschluss und Wasseranschluss beziehungsweise einer Waschgelegenheit ausgestattet und notdürftig möbliert sein sowie mindestens die Möglichkeit der Mitbenutzung der Toilette beziehungsweise einer Dusche oder eines Bades bieten.
Ein einklagbarer Anspruch auf eine eigene Wohnung wird in Deutschland wohl schon schwieriger, ist nach unserer juristischen Einschätzung jedoch durchaus aus dem internationalen Recht und dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ableitbar.
Sie wollen nun durch strategische Gerichtsprozesse Grundsatzentscheidungen erwirken. Wie wollen Sie vorgehen und welches Urteil erhoffen Sie sich von welchem Gericht?
Vehring: Wir haben bislang erste Vernetzungsarbeit geleistet und verschiedene Szenarien möglicher Klagen durchgespielt, wie beispielsweise Amtshaftungsklagen von Angehörigen auf der Straße erfrorener Menschen oder auch Schadensersatzansprüche von Obdachlosen selbst, zum Beispiel aufgrund der psychischen Belastung in den Unterkünften. Ein anderer Ansatz wäre es, schon etwas früher anzusetzen und Zwangsräumungen von Wohnraum für unzulässig erklären zu lassen, wenn kein angemessener Ersatzwohnraum zur Verfügung gestellt wird. Momentan ist die Zwangsräumung in die Obdachlosigkeit mit Verweis auf die Angebote der Obdachlosenhilfe bei vielen Gerichten noch gängige Praxis. Die Obdachlosenhilfe aber unterschreitet oft die Mindestanforderungen an angemessene Unterkünfte, wobei sie sich auf die Kurzfristigkeit der Hilfsangebote beruft. Studien zeigen jedoch, dass Menschen in vielen Fällen nicht nur kurzfristig, sondern für Jahre auf dieses System angewiesen sind.
Verwaltungsgerichte haben mehrfach entschieden, dass Obdachlosigkeit im Sinne des Polizeirechts als »Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung« gilt, Betroffene daher in Unterkünften untergebracht werden müssen. Demnach dürfte es doch eigentlich keine obdachlosen Menschen auf der Straße geben, oder?
Gerloff: Es dürfte in der Tat keine unfreiwillige Obdachlosigkeit geben, da die örtliche Polizei- oder Ordnungsbehörde bei Kenntnis sofort einschreiten müsste. Kenntnis erlangt die Polizei oder die sonst zuständige Behörde in der Regel aber nur, wenn sich Betroffene direkt an sie wenden.
Es geht also um die Frage des Zugangs zum Recht – das Recht selbst ist eindeutig. Hindernisse sind fehlende Aufklärung und Beratung genauso wie Barrieren beim Zugang zur Behörde. Wer nicht über Fax, E-Mail et cetera verfügt, kann in der Regel nur durch persönliche Vorsprache seine Ansprüche anmelden. Wer aber »verwahrlost« erscheint, hat oft schon Probleme, überhaupt in ein Behördengebäude hineinzukommen, oder die Scham ist zu groß. Und selbst wenn die Vorsprache gelingt, weisen Behörden Betroffene oft pauschal ab, weil Papiere fehlten, man nicht zuständig sei, die Sprache nicht verstanden werde und so weiter. Dabei sollten in einer bürgerorientierten Verwaltung Betroffene an die Hand genommen werden, um den Behördendschungel zu bewältigen.
Es braucht also ein Umdenken in den Behörden, weg von einer Abwehrhaltung, hin zu einer hilfeorientierten Service-Einstellung, und es braucht generell Barriereabbau in den Behörden und in der Justiz. Verbesserungspotential gibt es natürlich auch bei der Politik, die die Behörden materiell und personell adäquat ausstatten müsste.
Wie sähe effektive Hilfe aus?
Vehring: Ein Problem, das uns immer wieder aus der Praxis geschildert wurde, ist insbesondere, dass die Menschen keinen bedingungslosen Zugang zu Wohnungen bekommen. Clean zu sein, ist oft bereits Voraussetzung für den Zugang zur Wohnung oder auch für die Übernachtung in den Obdachlosenunterkünften. Wie soll ich denn aber einen Entzug ohne einen geschützten Raum hinbekommen? Zudem sind Tiere in vielen Wohngruppen oder Unterkünften nicht erlaubt. Oft sind Haustiere aber ein wichtiger Anker, eine wichtige Konstante für die betroffenen Personen. Daher erachten wir beispielsweise Projekte wie »Housing First« für gut, da die Menschen erst einmal einen Wohnraum erhalten und sich in diesem geschützten Raum dann ihren Problemen stellen können.
Die Wohnungslosenhilfe liegt vorrangig in den Händen freier Träger, während der Bestand an städtischen beziehungsweise kommunalen Wohnungen deutlich niedriger ist als der Bedarf. Dabei kostet die Unterbringung in einer Unterkunft den Staat in aller Regel viel mehr als eine reguläre Wohnung, und das, obwohl die Qualität der Unterkünfte teils grenzwertig ist. Ist das »Outsourcen« des Problems Wohnungslosigkeit auf freie Träger aus Ihrer Sicht die richtige Lösung?….