Das Märchen von der freiwilligen Obdachlosigkeit

Ein Konstrukt und seine Gefahren

Im Entwurf der „Leitlinien der Wohnungslosenhilfe/ -politik“ Stand 20.11.2017 stehen unter Punkt 5 Rechtsgrundlagen folgende Sätze: „ Im Rahmen der kommunalen, ordnungsrechtlichen Unterbringung von Obdachlosen ist rechtlich zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Obdachlosigkeit zu unterscheiden. Dabei begründet nur die unfreiwillige Obdachlosigkeit die sachliche Zuständigkeit der Polizei- und Ordnungsbehörden, Maßnahmen zur Vermeidung bzw. Beseitigung der Obdachlosigkeit durchzuführen. Ziel dieser Maßnahmen ist die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zur der in ihrer individualbezogenen Schutzrichtung auch die Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte gehört insbesondere das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2  Abs. 2 GG.“

 

Das Sozialgesetzbuch XII – Sozialhilfe kennt das Konstrukt der „freiwilligen Obdachlosigkeit“  nicht. Das Verwaltungsgericht Minden hatte am 17. Juni 2015 in einem Urteil mit dem Hinweis auf „freiwillige Obdachlosigkeit“ den Zwang zur ordnungsrechtlichen Unterbringung einer psychisch beeinträchtigten Frau, die in einer Gartenlaube lebte, verneint  (AZ 11 L 625/15): „Dieser zentrale Aspekt ist nicht erfüllt, wenn eine aus einem psychiatrischen Fachkrankenhaus entlassene Person sich auf dem mütterlichen Grundstück aufhält und dort im Gartenhaus wohnt. Es hat hier festzustehen, dass dieser Aufenthalt den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft nicht entspricht, sowie eine Wohnungssuche durchgeführt wurde und erfolglos blieb.An der Unterbringungsfähigkeit und –willigkeit einer wohnungslosen Person fehlt es, wenn vorherige Unterbringungen dieses Menschen zu massiven Beeinträchtigungen des Hausfriedens und erheblichen Gefährdungen der Mitbewohner geführt haben.“ Einer psychisch beeinträchtigten Frau „freiwillige Obdachlosigkeit“ zu bescheinigen ist mehr als fragwürdig.

Das Urteil ist nicht öffentlich zugänglich. Deshalb kann nicht gesagt werden, ob die Frau gegen ihren Willen ordnungsrechtlich untergebracht werden sollte oder ihr das Recht verwehrt worden war.

 

Die Wirklichkeit

Den Obdachlosen, den typischen Obdachlosen gibt es nicht. Jeder Mensch geht mit dem Verlust seiner Wohnung anders um.  Ein Mensch, der seine Wohnung verloren hat, muss sein Überleben ohne Wohnung organisieren. In dem Moment, da er sich in sein neues Leben eingerichtet  hat, besteht wenig Anlass, das „offizielle Hilfesystem“  in Anspruch zu nehmen. Der bürokratische Aufwand überfordert die Menschen regelmäßig. Nach einiger Zeit richtet sich jeder Mensch, der auf der Straße lebt, sein  Leben auf der Straße ein.

 

Ein Mensch, der an starken Phobien leidet, vor allem an starken sozialen Phobien, ist auch für gut gemeinte Hilfen schwer erreichbar. Phobien haben nichts mit Freiwilligkeit zu tun!

 

Menschen, die auf der Straße leben, müssen sich an die Verhältnisse anpassen.  In einem Abrisshaus kann nicht gewohnt werden, wenn Baumaßnahmen beginnen. Auch in Freien verändern sich die Bedingungen immer wieder. Ein als sicher scheinenden Schlafplatz erweist sich plötzlich als unsicher, kommunale Behörden dulden den Aufenthalt nicht mehr, Privatpersonen spielen Sherif. Die Gründe sind vielfältig. Ein älterer alkoholkranker deutscher Staatsbürger hatte mich um Hilfe gebeten, weil er sich in der Notübernachtung, die er in der Kältehilfesaison für die Nacht nutze, nicht mehr gut aufgehoben fühlte.  Gegen junge starke Kerle haben er und andere ältere Alkoholiker keine Chance.

Fazit

Die Obrigkeit hat immer wieder versucht, mit spitzfindigen „Begründungen“ verbriefte Rechte bedürftiger Untertanen streitig zu machen. Das Märchen von der freiwilligen Obdachlosigkeit gehört in die Reihe. Das sollten wir uns nicht gefallen lassen!

Jeder Mensch ohne festen Wohnsitz, der zur Sozialbehörde geht und dort um Unterbringung nachsucht, hat das Recht auf Unterbringung. Wohnen ist ein Menschenrecht und darf nicht mit dem Hinweis auf Freiwilligkeit verwehrt werden!

Das muss noch lange nicht heißen, alle Obdachlosen systematisch einzusammeln und in Unterkünfte zu stecken. Der freie Wille eines jeden Menschen, egal ob mit Wohnung oder ohne,  ist zu respektieren. Freiheit ist die Freiheit aller Bürger. Bei Menschen ohne festen Wohnsitz heißt das noch lange nicht, dass sie freiwillig obdachlos geworden sind.

Jan M.

 

Wohnungsmarkt und Obdachlosigkeit

Die Mieten steigen und steigen, gleichzeitig sind immer mehr Menschen zu sehen, die auf der Straße schlafen müssen. Wenn die Politiker und Mitarbeiter in den Verwaltungen die im § 2 des Grundgesetzes geforderte Wahrung der Menschenwürde ernst nehmen würden, müsste kein Mensch in Deutschland auf Straßen und Plätzen, in Parks, unter Bücken, in Ruinen, in Zügen und Bussen oder bei Kumpel schlafen.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat durch bundesweite Schätzungen der Zahl wohnungsloser Menschen einen Zusammenhang  zwischen der Zahl wohnungsloser Menschen und dem Wohnungsmarkt festgestellt. Sie warnt seit Jahren angesichts bundesweit angespannten Wohnungsmärkten in Großstädten und Ballungsräumen vor drastisch steigender Wohnungslosigkeit. Die düsteren Prognosen sind eingetroffen, zum Teil übertroffen worden.

Menschen können ihre Miete nicht mehr bezahlen und verlieren ihre Wohnung. Das trifft längst nicht mehr die Armen und Suchtkranken, es trifft auch  den Mittelstand. Wenn Menschen mit sicheren Jobs Schwierigkeiten haben, eine Wohnung zu finden und wohnungslos werden.

Die Zustände verstopfen das Hilfesystem. Immer mehr Hilfesuchende werden in den Ämtern abgewiesen, weil keine Plätze frei sind. Die Wohnungslosen, die einen Platz haben, müssen bleiben.

Es wird Zeit, dass wir wieder einen entspannten Wohnungsmarkt haben. Die bisherigen Ansätze haben nichts gebracht.

Das hilft den Wohnungslosen

Quelle:  Vaga2020

 

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